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Ohne Kernenergie werden wir bis 2050 keine CO2-Freiheit erreichen

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Während Deutschland und Belgien die Kernenergie gegen Erdgas eintauschen, wollen die Niederlande das Gas loswerden und zwei neue Kernkraftwerke bauen. Auch Polen, Frankreich und Finnland setzen auf Atomkraft. Kenner verstehen nichts. Aber solange Energie eine nationale Angelegenheit ist, kann die Europäische Union nur zuschauen.

Bis 2050 muss Europa klimaneutral sein und vollständig mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Aber auf dem Weg dorthin sind die Meinungen geteilt. Tatsache ist, dass wir mit Sonne und Wind allein nicht zurechtkommen. Schließlich wird Backup benötigt, wenn es dunkel oder nicht windig ist, und zu diesem Zeitpunkt ist es immer noch teuer, Energie in Batterien oder Wasserstoff zu speichern.

Deutschland wird sich in den kommenden Jahrzehnten auf Erdgas konzentrieren und eine direkte Gaspipeline nach Russland (Nord Stream 2) bauen. Die Entscheidung, mit der Atomkraft zu brechen, stammt aus dem Jahr 2011, nach der verheerenden Katastrophe in Fukushima, Japan. Zwei Kraftwerke wurden letzte Woche abgeschaltet, die restlichen drei, die noch offen sind, werden noch in diesem Jahr folgen. Belgien macht 2025 einen ähnlichen Schritt.

Jedes Land für sich

Die Niederlande wollen laut Koalitionsvertrag Gas loswerden und zwei neue Atomkraftwerke bauen. In den nächsten zehn Jahren hat das neue Kabinett dafür 5 Milliarden Euro bereitgestellt, davon 500 Millionen Euro in der kommenden Kabinettsperiode. Das derzeitige Kernkraftwerk in Borssele in Zeeland muss 2033 nicht mehr geschlossen werden, obwohl es älter ist als das in den Nachbarländern.

Jan Leen Kloosterman, Professor für Kernreaktorphysik an der TU Delft, findet es ’sehr seltsam‘, dass Länder auf der einen Seite der Grenze Atomkraftwerke bauen, während sie auf der anderen Seite schließen. „Es ist schade, dass es in Europa so sein muss“, seufzt er, „aber die europäischen Mitgliedsstaaten gehen ihren eigenen Kurs. Wenn eine Regierung die Genehmigung widerruft, gibt es wenig zu tun.“

Alle 27 Mitgliedstaaten beschäftigen sich mit ihrem eigenen Energiemix, erklärt Louise van Schaik vom Clingendael Institute, spezialisiert auf EU- und Klimafragen. „Es ist so in europäischen Verträgen verankert.“Sie schließt aber nicht aus, dass Brüssel hier langfristig mehr zu sagen hat. „Es gibt immer mehr Themen, bei denen die EU-Verträge unter Druck geraten.“

Übrigens hat die Europäische Kommission am Silvesterabend ihre vorläufige Liste der ‚grünen‘ Energiequellen vorgelegt. Diese sogenannte Taxonomie umfasst sowohl Erdgas als auch Kernenergie. Die Liste soll Anlegern wie Pensionskassen langfristig Klarheit verschaffen.

Catrinus Jepma, emeritierter Professor für Energie und Nachhaltigkeit an der Universität Groningen, nennt die widersprüchlichen Schritte der EU-Länder ebenfalls etwas seltsam. „Es wäre logischer, dafür europäische Politik zu machen.“Aber er versteht, dass Deutschland und Belgien an ihren Entscheidungen festhalten. „Es wäre seltsam, jetzt darauf zurückzukommen, aber ich weiß nicht, ob sie jetzt dasselbe entscheiden würden.“

Denn in den vergangenen zehn Jahren hat sich etwas verändert, mit dem Pariser Klimaabkommen 2015 als Höhepunkt. Zu dieser Zeit wurde beschlossen, dass der durchschnittliche Temperaturanstieg unter 2 Grad bleiben sollte. Daraus resultierten europäische und nationale Klimagesetze, die unter anderem versprechen, den CO2-Ausstoß innerhalb von dreißig Jahren auf Null zu bringen.

Keine zweite Hand

Im Gegensatz zu Gas und Kohle setzt die Stromerzeugung aus Kernenergie kein CO2 frei. Nur bei der Gewinnung von Uran (dem Brennstoff in Kernkraftwerken), beim Transport und beim Bau werden Treibhausgase ausgestoßen. Dies macht die Kernenergie vierzig Mal sauberer als Gas, nach Berechnungen des UN-Klimarats IPCC. Nur Windenergie schneidet besser ab.

Ist es nicht viel effizienter, den Betrieb der belgischen und deutschen Kernkraftwerke zu übernehmen als die Niederlande? Jepma denkt so, aber dann müssen die Länder dafür offen sein. „Ich wäre überrascht, wenn Belgien und Deutschland die Pflanzen auf ihrem Territorium behalten wollen.“

Ein bestehendes Kernkraftwerk abzubauen, in Betrieb zu nehmen und hier wieder aufzubauen, sei jedenfalls keine Option, erklärt Kloosterman. „Der Rückbau einer Anlage dauert Jahrzehnte und dafür muss man die Anlage an Ort und Stelle in Stücke schneiden. Also musst du einen neuen bauen.“

Der Kernreaktorphysiker nennt es schade, dass Belgien und Deutschland die Kernenergie nicht mehr nutzen. Ihm zufolge konnten ihre Pflanzen jahrelang teilnehmen. Dass die Niederlande nun den nuklearen Weg wählen, findet er gut.

„Es ist eine kluge Wahl. Ohne Kernenergie werden wir bis 2050 keine CO2-Freiheit erreichen.“

Ihm zufolge ist das Problem der radioaktiven Abfälle vorübergehend. Bestehende Leichtwasserreaktoren verbrauchen nur 1 Prozent des Urans, der Rest bleibt als zu lagerndes Restprodukt zurück. Aber die nächste Generation von Kernkraftwerken hat einen Wirkungsgrad von 100 Prozent, sagt Kloosterman. „Sie verbrennen nur den Müll.“

Auch sein Groninger Kollege Professor Jepma schließt neue Atomkraftwerke nicht aus, sondern in kleinen, flexiblen Einheiten, vorzugsweise auf Inseln tief in der Nordsee. Sie können dann zusammen mit Windkraftanlagen grünen Wasserstoff produzieren, der dann über die bestehenden Gaspipelines in der Nordsee zum Festland transportiert wird.

Wasserstoff und vor allem die nachhaltig erzeugte Variante gilt als Kraftstoff der Zukunft, der unter anderem Industrie und Schwertransport eine saubere Alternative zu Öl oder Gas bieten kann. Der Wasserstoff kann auch in windstillen und dunklen Momenten gespeichert und in grünen Strom umgewandelt werden.

Van Schaik van Clingendael weist darauf hin, dass die Niederlande für den Bau von Kernkraftwerken weitgehend vom Ausland abhängig sind. Ihrer Meinung nach verfügen nur eine Handvoll Länder über genügend nukleares Wissen. „Sie wollen nicht, dass Länder wie China oder Russland ein Kraftwerk räumen können.“

Genau deshalb muss ein Teil der 500 Millionen Euro, die Rutte IV in den kommenden Jahren ausgeben will, bei Bildungseinrichtungen landen, sagt der Delfter Professor von Kloosterman. „Wenn man ernsthaft mit der Kernenergie weitermachen will, dann müssen viel mehr Menschen ausgebildet werden und es braucht viel mehr Wissen, auch in der Regierung.“


Der Autor: Julian Schulte

Student an der Fakultät für Philologie an der Universität Berlin. Beschreibt die Ereignisse in Ihrer Stadt und im ganzen Land.

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