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Es ist Zeit, den Staub von der alten Taube zu blasen

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Nach einer langen Tortur blickte Deutschland ab 1990 besonders optimistisch auf die neue Weltordnung. Die Ernüchterung seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist besonders groß.

Die Taube debütierte 1981 bei der Demonstration in Bonn gegen NATO-Atomraketen. Dreihunderttausend Menschen gingen an diesem Tag auf die Straße. Seitdem wird die Taube bei Demonstrationen gegen die Jugoslawienkriege und den Irakkrieg und für den Frieden im Allgemeinen herumgetragen. Jetzt ist das ein Meter zwanzig Meter hohe Papier-Mâché-Biest etwas zerlumpt, am Schwanz hat sich die Farbe abgezogen, es taumelt auf seinem Unterwagen.

Bernd Seegers und Klaus Meinel versuchen an einem grauen Aprilnachmittag in einem Innenhof in Berlin-Schöneberg, den Vogel zu flicken. Über ihren Köpfen kicherten drei Nachbarsjungen mit Zigaretten aus dem Fenster.

Die Angsttaube muss wieder in Aktion treten. Seit Kanzler Olaf Scholz (SPD) wenige Tage nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine eine Revolution in der Außen- und Sicherheitspolitik angekündigt hat, eine „Zeitenwende“, die eine einmalige Investition von 100 Milliarden Euro in die Verteidigung beinhaltet, freut sich die deutsche Friedensbewegung auf den Samstag vor Ostern, an dem traditionell der größte Friedensmarsch stattfindet. ‚Frieden schaffen ohne waffen‘ ist traditionell eines der Mottos.

Seegers und Meinel, beide 72, und Laura von Wimmersperg (88) sind immer noch treibende Kräfte hinter dem lokalen Zweig der Friedensbewegung. Von Wimmersperg schlägt das Biest liebevoll auf seine Flanke. „Nach dem Fall der Mauer dachten alle, Frieden sei eine vollendete Tatsache. Die vielen Kollektive aus den Achtzigern haben sich aufgelöst, wir sind bei immer weniger“, sagt Von Wimmersperg. Alle drei sind immer noch vital genug, aber ihre Ideale scheinen aus einer anderen Zeit zu stammen.

Bis zum 27. Februar war ‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ auch mehr oder weniger das Motto aufeinanderfolgender deutscher Regierungen, selbst im Scholz-Koalitionsvertrag vom vergangenen Dezember wird globale Abrüstung immer noch befürwortet. Nach der deutschen Einheit wurden die Verteidigungsausgaben für mehr als zwei Jahrzehnte gekürzt; Die Bundeswehr wurde hauptsächlich als Hilfsorganisation in Katastrophengebieten eingesetzt. Kalkuliert war von der Friedensdividende die Rede – dank des Endes des Kalten Krieges könnten die Investitionen, die bisher in die schwer bewaffnete Bundeswehr geflossen sind, nun in Bildung oder Pflege fließen. Deutschland habe in den letzten Jahren auch daran gedacht, den Frieden für die Ukraine zu fördern, indem es – trotz wiederholter Aufforderungen aus Kiew – keine Waffen lieferte: Das würde Moskau nur brutalisieren, lautete die Begründung.

Diese Rüstungsaversion und das erhabene Ideal, den Frieden allein durch Diplomatie zu bewahren, mussten in Berlin mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine über Nacht überwunden werden. Am Samstag nach Kriegsbeginn beschloss Deutschland, Waffen nach Kiew zu liefern, zunächst tausend Panzerabwehrwaffen und fünfhundert Stinger-Raketen. Auch das eigene Waffenarsenal muss erweitert werden.

Die neue Aufrüstung berührt eine Säule unter dem deutschen Selbstverständnis. „Wir mussten plötzlich etwas tun, was wir nicht tun wollten. In Deutschland ist die Enttäuschung riesig“, sagt Wolfgang Thierse, SPD-Koryphäe und ehemaliger Bundestagspräsident. Anfang April schrieb Thierse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Aufsatz über die Ambivalenz des deutschen Pazifismus. „Ich habe immer eine Affinität zur Friedensbewegung gespürt. Deshalb berührt es mich so sehr, wenn ich sehe, dass jetzt bei Paraden die gleichen Slogans verwendet werden wie in den achtziger Jahren: „Soldaten sind Mörder“ oder “ Stellen Sie sich vor, es gibt einen Krieg und niemand geht dorthin?’. In den Ohren der Ukrainer muss das unglaublich zynisch klingen“, weht Thierse durchs Telefon.

In einer geräumigen Wohnung, in der sie seit fünfzig Jahren lebt, kocht Von Wimmersperg Kaffee für ihre Gäste. Auf einer Tafel in ihrer Küche, unter einer Einkaufsliste – Pfeffer, Makkaroni, Kaffee – steht „Liebe“, „Frieden“, mit Herz und Friedenszeichen. Es gebe viel Spaltung innerhalb der Bewegung, sagt Von Wimmersperg, auch in den letzten Wochen seien Menschen nach hitzigen Treffen abgereist, bei denen Journalisten nicht willkommen waren. Die Einwände der Ausreißer: Für einige Friedensaktivisten sind die USA und die NATO immer noch der Feind, Gefühle aus der Zeit, die gegen den Vietnamkrieg und gegen die Atomraketen demonstriert wurden. Auch das Trio in Schöneberg macht nicht Putin, sondern den Westen für den Krieg verantwortlich.

Von Wimmersperg spricht von der enormen deutschen „historischen Schuld“ gegenüber Russland und erwähnt die 27 Millionen Opfer, die im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion gefallen sind. „Und 2015 waren wir wieder 150 Kilometer von Leningrad entfernt“, empört sich Von Wimmersperg und verweist auf die Stationierung von 5.000 zusätzlichen NATO-Truppen im Baltikum. Sie ist Mitglied der Partei Die Linke, der schwindenden Partei, mit der die Friedensbewegung am engsten verflochten ist. „In Russland herrscht eine enorme Angst vor einem weiteren Krieg mit dem Westen“, bemerkt sie, daher sollte es kein Wunder sein, dass Russland die Offensive gewählt hat. Im Jahr 2022 steuert die Friedenstaube offenbar vor allem auf Putin zu.

Von Wimmerspergs Argumentation mag extrem klingen – eine solche herablassende Argumentation ist auch im deutschen politischen Establishment etabliert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 im vergangenen Jahr mit Verweis auf die Millionen Opfer verteidigt, die Deutschland in der Sowjetunion gefordert hat. Das Problem bei diesem Argument ist, dass die Opfer auch in Ländern wie der Ukraine gefallen sind. Als Außenminister im Kabinett Merkel-III bezeichnete Steinmeier die NATO-Manöver in Osteuropa 2016 als „Schusswaffengeklapper“. In der vergangenen Woche bezeichnete Steinmeier das Festhalten an Nord Stream 2 als „eindeutig falsch“ und räumte ein, sich in Putin geirrt zu haben.

Für Kiew kamen Steinmeiers neue Erkenntnisse zu spät: Am Dienstag wurde klar, dass Steinmeier am Mittwoch mit seinen Kollegen aus Polen und dem Baltikum nach Kiew reisen wollte, um Solidarität zu zeigen. Am Dienstagnachmittag kam aus Kiew das Signal, dass Steinmeier wegen seiner früheren Ansichten in der Ukraine nicht willkommen ist.

Ein weiteres gemeinsames Argument der Friedensbewegung und auch der drei in Schöneberg ist, dass Waffenlieferungen an die Ukraine den Krieg verlängern und das Leid der Ukrainer nur noch verstärken werden. Ich würde lieber das Land aufgeben. Bemerkenswerterweise war das auch die erste Argumentation des liberalen Finanzministers Christian Lindner (FDP), kurz nach Kriegsbeginn, so der ausgesprochene ukrainische Botschafter in Berlin Andri Melnyk. Melnyk sagte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Lindner habe am Tag der russischen Invasion mit einem höflichen Lächeln gesagt, dass Waffenlieferungen keinen Sinn hätten, weil die Ukraine sowieso keine Chance hätte. „Sie haben nur noch wenige Stunden“, sagte Lindner.
Lagertanks

Drei Tage nach Kriegsbeginn versprach Deutschland dennoch Waffenlieferungen. Ende März sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), Deutschland sei inzwischen der drittgrößte Waffenlieferant der Ukraine. Laut Botschafter Melnyk würden die Ukrainer das gerne tun, aber davon ist Scholz ‚Koalition meilenweit entfernt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte Deutschland am Sonntag „zurückhaltend und cool“, als er in der Zeitung Die Welt nach Waffenlieferungen gefragt wurde.

Ein Antrag auf Marder-Panzer wurde am vergangenen Wochenende von Minister Lambrecht abgelehnt. Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall hatte erklärt, er könne zu gegebener Zeit, wenn auch erst in wenigen Monaten, hundert dieser Panzer liefern. Die Idee war, dass die Bundeswehr zuerst ihre eigenen Marder-Panzer an die Ukraine übergibt und dann Rheinmetalls übernimmt. Lambrecht hielt den Plan für undurchführbar, weil die Bundeswehr auf diese Panzer nicht verzichten könne, wenn auch nur für eine Weile.

Wegen Lambrechts Beschlüssen quietscht und knarrt die Koalition: Grüne und FDP wollen schwerere Waffen in die Ukraine liefern; Kanzler Scholz und seine SPD scheinen das zu stoppen.

Laut verschiedenen Umfragen ist eine große Mehrheit der Deutschen für Investitionen in die Verteidigung (55 Prozent laut YouGov, 74 Prozent laut Civey). Eine aktuelle Umfrage zeigt auch, dass 45 Prozent der Deutschen glauben, dass das Land mehr für die Ukraine tun könnte, zum Beispiel ein Gasembargo oder mehr Waffenlieferungen. Vor der russischen Invasion waren laut der Agentur Ipsos nur 15 Prozent für Waffenlieferungen in die Ukraine bestimmt.

Die Stimmung hat sich schnell gedreht, aber noch nicht überall haben sich die Positionen herauskristallisiert. „Die Emotionen sind manchmal kompliziert“, meint Thierse, „man kann intellektuelle Einsichten haben, aber der Magen rebelliert immer noch gegen diese Einsichten“.

Gerade für die ältere Generation bedeutet der Krieg einen Umsturz eines Weltbildes. Der Vizepräsident der Liberalen, Wolfgang Kubicki (FDP), sagte kürzlich, Deutschland sei dreißig Jahre lang „vom Frieden betrunken“. „Meine fünfzigjährige politische Agenda ist in Luft aufgelöst. Es ist nicht einfach mit 70. Damit muss man umgehen“, sagte Kubicki dem Spiegel.

„Ich glaube, es gibt keine Gesellschaft, die nach 1990 die neue Weltordnung so optimistisch und idealistisch gesehen hat wie Deutschland. Und diese neue Ordnung bröckelt vielleicht schon eine Weile, mit diesem Krieg ist sie komplett vorbei“, sagt Russland-Experte Janis Kluge im Gespräch.

Diese Ansicht teilt auch Thierse: „Unser Glück in den neunziger Jahren war so groß: Nach den beiden Kriegen, an denen Deutschland schuld war, nach der Teilung Deutschlands, nach einer endlosen Qual hatten wir die Möglichkeit, in einem friedlichen Europa zu leben. Wir waren von Freunden umgeben. Es war keine Illusion, es gab gute Gründe zu glauben, dass wir ein Kontinent des Friedens werden könnten. Das Glück der Deutschen war enorm – und deshalb ist die Bitterkeit jetzt umso größer.”


Der Autor: Julian Schulte

Student an der Fakultät für Philologie an der Universität Berlin. Beschreibt die Ereignisse in Ihrer Stadt und im ganzen Land.

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