Home Politik Wenn Andrij Melnyk nicht mehr in Berlin ist, wer wird diktieren, was die Deutschen tun müssen?

Wenn Andrij Melnyk nicht mehr in Berlin ist, wer wird diktieren, was die Deutschen tun müssen?

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Ein guter Gradmesser für die deutsch-ukrainischen Beziehungen der letzten Monate war die Twitter-Timeline des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrej Melnyk. „Feiglinge“, schrieb er in einem Spiegel-Interview, in dem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) von seiner Angst vor einem Atomkrieg spricht. „Der moralische Bankrott eines großen deutschen Philosophen“, kommentierte Melnyk einen Beitrag von Jürgen Habermas zur deutschen Rolle im russischen Krieg in der Ukraine. „Pseudointellektuelle Verlierer“, schrieb Melnyk über eine Reihe von Intellektuellen, die damals für einen Waffenstillstand eintraten.

Seit Andrej Melnyk (46) 2014 Botschafter in Deutschland wurde, ist er mit Abstand der am wenigsten diplomatische Diplomat in Berlin. Am Samstag wurde über die Website des ukrainischen Präsidenten bekannt, dass Melnyk von seinem Posten entfernt wurde, ebenso wie die Botschafter in Norwegen, der Tschechischen Republik, Ungarn und Indien. Die Entscheidung ist nicht weiter motiviert.

Der Jurist Melnyk hat sich in den vergangenen Monaten unermüdlich in Talkshows und Zeitungsinterviews für mehr deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine eingesetzt. Er scheute sich nicht, Politikern mit den Fehlern der jüngsten deutschen Außenpolitik – dem Bau von Nord Stream 2 zum Beispiel und der herablassenden Haltung der SPD, der Partei von Bundeskanzler Olaf Scholz, gegenüber Russland – die Ohren zu waschen und diese Fehler als Argument zu verwenden, warum Deutschland mehr tun sollte.

Dieses Argument hat vielen SPD-Leuten in die falsche Kehle geschossen. Staatssekretär Sören Barol (Wohnungsbau, SPD) nannte Melnyk in einem inzwischen gelöschten Tweet „unerträglich“.

Aber zwischen Melnyk und vielen deutschen Beamten hat es lange vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine nicht geklappt. Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte Melnyk, er habe seit Jahren eine Art Einreiseverbot im Außenministerium und im Kanzleramt. Sie wollten Melnyks Ermordung nicht hören, seine Kritik an Nord Stream 2, seine Forderungen nach Verteidigungswaffen. Deshalb begann er laut Melnyk immer mehr mit Journalisten zu sprechen.

Der Umgang mit Melnyk sagt viel über die deutsche Sicht auf die Ukraine aus. Stunden nach dem russischen Einmarsch, erzählt Melnyk, habe Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) mit einem „höflichen Lächeln“ zu Melnyk gesagt, dass die Ukrainer noch „ein paar Stunden“ hätten und Waffenlieferungen oder Sanktionen daher sinnlos wären. In der Talkshow Anne Will sagte ein deutscher Sozialpsychologe mit erhobenem Zeigefinger zu Melnyk, er solle einfach zuhören, weil die Deutschen mit ihrer Kriegserfahrung gute Gründe haben, keine Waffen liefern zu wollen.

Im Verweis auf die eigene Geschichte mischt sich in Deutschland oft eine Art peinliche Demut mit moralischer Überlegenheit: Die Deutschen haben längst auf Waffen verzichtet. Und wenn es um die Schulden geht, die Deutschland wegen der Millionen Toten dort im Zweiten Weltkrieg gegenüber der Sowjetunion hat, geht es eigentlich immer um Russland und kaum um die anderen postsowjetischen Staaten wie das Baltikum oder die Ukraine.

Die deutsch-ukrainische Geschichte brachte Melnyk schließlich in Schwierigkeiten. In einem Interview bestritt Melnyk, dass der ukrainische Nationalist Stepan Bandera ein“Massenmörder“ sei. Bandera ist in der Ukraine umstritten: Manche sehen in ihm einen Freiheitskämpfer, 2010 wurde er vom damaligen Präsidenten Viktor Juschtschenko zum Nationalhelden erklärt. Aber er war auch ein Antisemit, der mit den Nazis kollaborierte. Angesichts dessen sagte Melnyk: „Kollaborateure waren in ganz Europa.“Die israelische Botschaft in Berlin beschuldigte Melnyk, den Holocaust heruntergespielt zu haben. Das ukrainische Außenministerium distanzierte sich von Melnyks Aussagen.

Eine Woche später ist Melnyks Rücktritt eine Tatsache. Die Entlassung der anderen vier Botschafter lässt Raum für die Interpretation, dass dies reine Routine ist. Ebenso denkbar ist, dass Präsident Selenskyj den Beziehungen zu Deutschland neue Impulse geben will, mit einem Botschafter in Berlin, der der Kanzlerin und außenpolitisch willkommen ist und sich etwas weniger provokant äußert.

Aus Kiew kam in den letzten Monaten jedoch auch Lob für Melnyk: Laut einem Berater von Zelensky habe Melnyk „wie ein Löwe gekämpft.“


Der Autor: Julian Schulte

Student an der Fakultät für Philologie an der Universität Berlin. Beschreibt die Ereignisse in Ihrer Stadt und im ganzen Land.

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